Buddy Collette Septet
Polynesia
Trunk Records (1959/2019)
Der Vollmond steht mit einer orangefarbenen Wucht über dem Hinterland von Neu-Ulm, als brenne er. Ich erinnere mich an die Nächte als Kind, wenn mein Vater mich um 3 Uhr zu einem Kampf von Muhammad Ali weckte. Manchmal, wenn ich zu lange brauchte, um mich aus dem Tiefschlaf vor den Fernseher im Wohnzimmer zu schleppen, war der Kampf bereits vorbei. The Greatest hatte wieder einmal irgendeinen größenwahnsinnigen Herausforderer in der ersten Runde KO geschlagen, und ich dackelte zurück ins Bett.
Es gibt nur wenige TV-Erinnerungen, die sich mir mit solch unauslöschlicher Klarheit und mystischer Kindheitsromantik eingebrannt haben. Neben dem Pokalfinale 1973, als Günther Netzer sich selber einwechselte und mit seinem linken Fuß (den er, wie man unter Fußballern zu sagen pflegt, nur dafür benutzte, um nicht umzufallen) für die Entscheidung sorgte, sind das die beiden Vierteiler „Tom Sawyer und Huckleberry Finns Abenteuer“ und „Der Seewolf“, in dem im vierten Teil des Seewolfs Gegenspieler Humphrey van Weiden nach endloser Suche in der Südsee die Insel und das Haus des berüchtigten Swissin Hall findet, einen Ort, wie geschaffen für „Polynesia“.
Meine Damen und Herren, das hier ist nicht weniger als die seltenste aller exotischsten Langspielplatten, noch viel exotischer als „Eden‘s Island“, das 1960 erschienene, sagenumwobene Album des „langbärtigen, barfüßigen, Christus-ähnlichen Eremiten“ Eden Ahbez, wie der amerikanische Musikwissenschaftler Gunther Schuller den angeblichen Waisenknaben aus Brooklyn bezeichnete, der behauptete, die USA achtmal zu Fuß durchquert zu haben. Aber das ist eine andere Geschichte, und sie führt uns vielleicht etwas zu weit weg von der Geschichte um einen Ort, der zwar nicht ganz so entfernt und unerreichbar liegt wie der Garten Eden, aber fast genauso mythenumrankt ist.
Ob der amerikanische Jazzsaxofonist und Bürgerrechtler Buddy Collette jemals dort war, ist nicht überliefert, er hatte jedoch Ende der 50er Jahre die Idee, mal auszuprobieren, wie es klingt, den Jazz mit der Musik dieser ozeanischen Inselregion zu vermählen. Mit seinem Septett, dem Musiker mit so klangvollen Namen wie Al Viola oder Ed Lustgarten angehörten, spielte er ein kurzes Album ein, nicht mal eine halbe Stunde lang, das Jazzfreunden ebenso gefallen kann wie Easy-Listening-Fans und natürlich Musikfreaks, die am liebsten das hören, was sich allen gängigen Einordnungen widersetzt. In diesem Fall: mystifizierte Klangwelten, romantisches Südsee-Geflöte, allerhand Geklöppeltes und asiatisches Gezupfe und Gestreiche, zierlicher Frauengesang voller dunklem, sehnsüchtigem Timbre, und eigentlich nur in „Singapore Sling“ so etwas wie Modern Jazz, bei dem Collette selber an der Klarinette am Werk ist (wie er überhaupt auf dem ganzen Album das Saxofon im Köfferchen liegen lässt).
Nach zwei Instrumentals und zwei von Marni Nixon gesungenen Songs auf der A-Seite müssen wir bereits nach 14 Minuten die LP umdrehen und lauschen danach auf der „Polynesian Suite“ und der „Japanese Suite“ den Erzählungen des amerikanischen Schauspielers Robert Sorrels, dessen Geschichte diesem exotischen Fundstück eine besondere Fußnote verpasst: Im Jahr 2004 latschte er, bereits 74 Jahre alt, in eine Bar in Kalifornien und erschoss zwei Männer. Um das noch unter dem Begriff „exotisch“ zu verbuchen, muss man dann aber doch ein erhöhtes Maß an Abgebrühtheit unter dem Halfter herumtragen.