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Kunst & Alltag

Music For Fans (12): Anthology Of American Folk Music I – III

Various Artists
Anthology of American Folk Music I – III
Smithsonian Folkway Recordings, 1952/1997

 

Monstern wie diesen nähert man sich erst einmal mit Ehrfurcht: Man hält eine schwere Box im LP-Format in den Händen, überzogen ist sie mit strukturiertem Stoff (Leinen?). Inside: sechs CDs mit insgesamt 84 Songs, dazu ein DIN A4-Reprint des originalen, 28-seitigen Begleitheftes und ein quadratischer Reader in der Größe der Box mit „Essays, Appreciations, and Annotations“ (u.a. von Greil Marcus), 68 Seiten dick – ein Berg von Songs, Infos, Anmerkungen, Interpretationen.

 

Die drei Doppel-CDs sind aufgeteilt in „Ballads“, „Social Music“ und „Songs“. Erschienen ist die Box erstmals 1952, in Form von sechs LPs auf Folkways, dem Label des amerikanischen Filmemachers, Bohemian, Plattensammlers, DIY-Anthropologen und Beat Generation-Aktivisten Harry Smith. Bestückt hatte er sie ausschließlich mit 78er Schellacks aus seiner persönlichen Sammlung, mit Musik, die zwischen 1927 und 1932 veröffentlicht wurde. Ausverkauft waren die sechs Platten damals ruckzuck, ein Reissue gab es in den 1960er Jahren. (Hinweis in eigener Sache: Falls jemand die Original-LPs besitzt und günstig verkaufen möchte: kurze Mail genügt. LOL.)

 

Kurz und gut: Wer sich für Country, Folk und/oder Blues interessiert und nicht hartnäckig die Meinung vertritt, Hank Williams, Bob Dylan und Muddy Waters hätten diese Stile erfunden, sollte die Anthology sein Eigen nennen. Wem Namen wie The Carter Family, Frank Hutchison, Joseph Falcon, Bascom Lamar Lunsford, Dock Boggs, Blind Lemon Jefferson oder Alabama Sacred Harp Singers zumindest schon einmal auf dem Feld, hinter der Kirche oder an einer staubigen Kreuzung begegnet sind, sowieso.

 

Noch kürzer: „Anthology of American Folk Music“ ist die Ursuppe populärer amerikanischer Musik, denn die Formel lautet noch immer: Ohne Blues keinen Jazz (im weiteren Sinne), ohne Country keinen Rock’n’Roll, und ohne Rock’n’Roll mehr oder weniger gar nichts.

 

Und wenn wir uns durch die mehr als vier Stunden Musik gezupft und gestampft haben, wenn wir mehrstimmig mitgesungen und mitgelitten haben, werden wir vielleicht denken, dass da zu viel knistert und rauscht und die Menschen damals über nichts anderes zu singen wussten als Liebe, Mord, Religion und Eisenbahnunglücke. Aber es war eben immer noch die Zeit der Oral History, in der man all das, was einem im Laufe eines oft sehr kurzen Lebens an Glücksmomenten, Erweckungserlebnissen, Widerwärtigkeiten, Schicksalsschlägen und Trunkenheitsdelikten widerfuhr, häufig am besten in Form von Songs für die Nachwelt konservieren konnte. Zumindest konnte es wohl manchmal das Leben ein wenig erträglicher machen, wenn man es ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte – indem man es genau dort aufführte.

 

Harry Smith erlitt ausgerechnet im mythischen New Yorker Chelsea Hotel am 27. November 1991 einen Herzstillstand und starb eine Stunde später („singing as he drifted away“) in den Armen einer engen Freundin, der italienischen Dichterin Paola Igliori. Den Erfolg seiner obsessiven Arbeit hat er in eine ebenso großspurig klingende wie elementar gültige Aussage gefasst: „I’m glad to say that my dreams came true. I saw America changed through music.“

 

P.S. Im Jahr 2000 erschien auf John Faheys Revenant Records Harry Smith’s Anthology of American Folk Music, Volume Four mit 28 Songs, die Smith zwar zusammengestellt, aber nie veröffentlicht hatte.