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Kunst & Alltag

Music For Fans (14): American Primitive Vol. I & II

Various Artists
American Primitive Vol. I: Raw Pre-War Gospel (1926–36)
American Primitive Vol. II: Pre-War Revenants (1897–1939)
Revenant, 1997/2005


 

Kürzlich habe ich von Jochen Distelmeyer den Satz gelesen, dass sich für ihn Country und Blues, die beiden Urformen amerikanischer Volksmusik, dadurch unterscheiden, dass der Blues-Musiker seiner Gemeinde den Rücken kehre und – abgefallen vom Glauben – als Tramp und Hobo mit Gott breche und seinen eigenen Weg suche, während der Country-Sänger in seiner Gemeinde bleibe und weiterhin als Teil von ihr singe.

 

Im Grunde ist das eine Umkehrung der Vorstellung, die wir von weißer und schwarzer Musik haben (auch wenn Country wesentlich schwärzer ist, als viele denken): Lebt schwarze Musik nicht aus und in der Gemeinschaft, am deutlichsten im kirchlichen Gospelchor verbildlicht? Besingt der weiße Country-Sänger nicht ständig als Individuum sein beschwerliches Dasein, das gerne gescheiterten Liebesbeziehungen, Verbrechen oder der Suche nach dem Glück geschuldet ist? Den Hobo kennt man, zumindest wenn man Quellen wie Jack London heranzieht, doch hauptsächlich als weißen Wanderarbeiter oder Abenteurer, der auf Güterzügen unterwegs ist.

 

Warum man sich uralte Musik anhört, deren Hintergrundgeräusche eher an einen Waschsalon oder strömenden Regen erinnern und bisweilen die Musik selber freundlich zu übernehmen scheinen, verstehen die meisten Menschen vielleicht zu Recht nicht. Sie hat auf das erste Hören nichts mit uns und unserem Leben zu tun und erinnert uns lediglich unangenehm an Zeiten, in denen das Wort Individualisierung zumeist den Versuch bedeutete, dem täglichen Elend dadurch zu entgehen, dass man – wenn man überhaupt die Möglichkeit dazu hatte – irgendwohin flüchtete, wo man keine Ahnung hatte, was einen erwartete (meist war das wohl nichts Gutes).

 

In ihrer Musik sind diese Figuren (die schwarzen wie die weißen) häufig auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen. Sie singen zwar von ihren Träumen, von dem, was sie gerne hätten oder wären. Selten geht es dabei aber um Konsum oder gar Luxus, sondern um halbwegs menschliche Lebensumstände (und ebenso häufig nur um die pure Darstellung ihrer unmenschlichen Lebensumstände oder derer, die sie stellvertretend besingen).

 

Und so bin ich durch John Jeremiah Sullivans großartiges Buch „Pulphead“, das den verräterischen Untertitel „Vom Ende Amerikas“ trägt, auf die CDs „American Primitive Vol. I: Raw Pre-War Gospel (1926 – 36)“ und „American Primitive Vol. II: Pre-War Revenants (1897 – 1939)“ gestoßen: 76 Songs, die der amerikanische Gitarrist und Musikwissenschaftler John Fahey durch vermutlich ziemlich aufwendige archäologische Körnersuche zusammengetragen hat.

 

Es handelt sich um Musik, die teilweise so verrauscht ist, dass selbst die beiden Amerikaner Fahey und Sullivan in gemeinsamer nächtlicher Spurensuche, verbunden durchs Telefon, die textlichen Mosaiksteinchen (wie bei Geeshie Wileys „Last Kind Words Blues“) mühsam zusammenklauben mussten; die manchmal mehr Stimmung und Vermutung als Song zu sein scheint; und die uns vor allem deshalb neugierig machen kann, weil sie uns im Gegensatz zum Großteil der aktuellen Musik (Kendrick Lamar und einige wenige andere ausgenommen) Geschichten und Geschichte zu erzählen hat und uns im besten Fall dazu bringt, über Neugier und die daraus folgende Recherche auf Namen wie Alan Lomax, Harry Smith oder Samuel B. Charters und damit auf die Ursprünge der auf Tonträger festgehaltenen amerikanischen Musik zu stoßen. Von dort ist der Weg – wenn man sich mal festgebissen hat – zu Jimi Hendrix, Bob Dylan oder Kendrick Lamar unter Umständen wesentlich kürzer, als man denkt. Einspruch erwünscht.